persönlichkeiten ohne person

von dr. gunter woelky, gastprofessor hfbk hamburg
2010

manche sagen, die skulpturen von annette meincke-nagy hätten gelegentlich ähnlichkeiten mit ihr selbst. falls es so sein sollte: darüber nachzudenken wäre das feld der analytischen psychologie. wer aber genauer hinsieht, sich versenkt in ihre arbeiten, wagt einen blick in das eigene seelenbild als transpersonales, also zeitgeistlich überpersönliches.

die bilderwelt der annette meincke-nagy verändert sich zügig – und doch ist im nachhinein eine implizite logik (soweit man eine solche der kunst zurechnen darf) zu entdecken. das kontinuum der stille – ein auffälliges merkmal der skulpturen von annette meincke-nagy – findet besonders mit den ganzfiguren ab 2008 eine neue ausdrucksform. die augen ihrer skulpturen schauen nicht nur durch den betrachter hindurch, sie scheinen ihn gar nicht zur kenntnis zu nehmen, blicken an ihm vorbei, als wäre er nicht präsent. ihr blick mag sowohl aus einer (kunst-) historisch vergangenen welt kommen, als auch aus einer transzendenten wirklichkeit, die keine immanente zeit kennt. manche köpfe und büsten sind zitate, die mühelos 500 jahre kunstgeschichtlicher entwicklung überspringen und die ästhetik alter meister der malerei in eine neue moderne form gießen.

wenn etymologisch die herkunft von religion als »religio« oder »relegere« im sinne von rückverbindung oder bedenken, achtgeben (friedrich kluge) gesetzt wird, hat man mit dem achtgeben vielen figuren von annette meincke-nagy nicht nur ein kunsthistorisches gut vor augen, sondern auch ein aktuelles geschehen, das jene seele in eine sinnhafte bewegung setzt, die seit 1945 aufzuspüren nicht mehr ohne weiteres möglich ist. schon damals konnte es nicht mehr allein um die schönheit der kunst gehen, noch weniger um zeitlich bedingte und befristete modeerscheinungen, sondern um etwas, das als vergangenheit, gegenwart und zukunft eben deshalb nur noch in kunst und religion überwintert, weil nach 1945 sowohl ein auf der reinen vernunft begründetes leben, als auch eine nur der schönheit verpflichteten kunst vollkommen absurd geworden war.

über marilyn monroe wurde gesagt, sie sei am ende ihres lebens ihrer persönlichkeit beraubt worden. das offensive leben, im dem nichts mehr privat geblieben war, habe ihr die seele genommen – ein phänomen, das in der heutigen medien- und glamourwelt zu einem gossip verkümmert ist, und das in der modernen entertainmentwelt vermarktungsgerecht mit einkalkuliert wird. eine eher untypische arbeit von annette meincke-nagy ist das »portrait« der marilyn monroe, vielleicht eine antithese zu warhols interpretation desselben mythos. die monroe war nicht die erste persönlichkeit, deren innere person sich im scheinwerferlicht der kulturindustrie auflöste. warhol hat sie vielleicht deshalb seriell »portraitiert«, weil sein portrait nicht das portrait einer person ist, sondern sehr viel mehr ein gesellschaftsstrukturelles dokument. es ist – bei annette meincke-nagy – nicht das serielle, das technische, das die ikone marilyn zu bannen vermag, sondern es ist das aufzeigen des nur scheinbar entseelten, in dem das künstlerische und das menschliche wieder eins geworden sind.

edvard hoppers realismus hat die entwicklung der dekonstruktion des persönlichen früh thematisiert und – mit und gegen ernst bloch – eine »ästhetik des vor- scheins« ohne versöhnung geschaffen. »morning sun« von 1952 und viele andere seiner »personen« sind mit den arbeiten von annette meincke-nagy – neudeutsch – so verlinkt, als würde der schritt in die dritte dimension fast 60 jahre auf ihre umsetzung gewartet haben. die sitzenden figuren von annette meincke-nagy sind allesamt jüngeren datums (etwa seit 2008). auffällig an ihnen ist das innehalten einer bewegung, deren gestus mit äußerster sparsamkeit jede überflüssige emphase meidet. die momentaufnahme, in denen die figur verharrt, ist ohne pathos, ohne erzählende übertreibung. auch diese sitzenden suchen mit dem blick nur selten den betrachter. synonym zur gestik bleiben sie bei sich, sind seelenarbeiter, betroffene, niemals extrovertiert agierende. sie lauschen nach innen, sehen innere bilder, achten auf ihre gefühle. als persönlichkeiten ohne person sind sie prototypen einer kommunikativ schwierigen gegenwart, die gern von sich das gegenteil behauptet: »wir sind im kontakt – allüberall.« das sind die skulpturen von annette meincke-nagy genau nicht, und darin liegt ihre magie, ihr zauber, ihr unlösbares rätsel.

portraits sind innerhalb des bisherigen gesamtwerks der künstlerin selten zu finden. sie portraitiert in der regel keine menschen, keine individuellen charaktere, bei denen sich die abgebildete person haarklein darüber gedanken machen kann, ob das kontingent an ähnlichkeiten mit dem »original« ausreichend berührt oder am besten sogar eingelöst wurde. obwohl annette meincke-nagy zum portraitieren handwerklich perfekt in der lage ist (wie einzelne exponate beweisen), interessiert sie viel mehr das, was hinter der sichtbaren welt der menschlichen individuums, was sich hinter – um mit heidegger zu sprechen – dem sein des äußeren als seiendes eigentlich verbirgt.

wer den figuren von annette meincke-nagy seine aufmerksamkeit schenkt versteht auch, dass die westliche gesellschaft des 21. jahrhunderts zum teil noch die alte welt hoppers ist, in der das grelle theaterlicht oder der melancholische sonnenuntergang jene in ihrer einsamkeit zurücklässt, die nur noch durch kunst oder religion einen ausweg finden können. dennoch: seit 2009 sind eine vielzahl stehender figuren entstanden, denen im vergleich zu den sitzenden der jahre zuvor ein stück schwermut verloren gegangen ist. das introvertierte »noli me tangere« (katalogtext) der frühen schaffensjahre von annette meincke-nagy weicht zurück, während das transpersonale in den vordergrund tritt, auch hier ohne extrovertiert zu werden. die jüngeren figuren zeigen eine andere, neue dimension. sie sind voller spannung, auf dem sprung, ungeduldig wartend. sie erinnern an die metaphysischen helden becketts, sind jedoch – gegen deren deklarierte ausweglosigkeit – neue hoffnungsträger einer welt, die auf versöhnung wartet und erlösung finden will.

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